Glück und Unglück sind nicht nur von einem Blickwinkel abhängige relative Begriffe (siehe z. B. Jacob Burckhardt). Sie erfordern Maßstäbe, das Wissen um Gut und Böse, damit man sie überhaupt unterscheiden kann. Sie benötigen eine Welt, die die Benennung der Dinge und ihrer Relationen ermöglicht, mehr noch, voraussetzt, indem sie den Interpretationskontext und somit erst die sprachliche Artikulation unserer Erfahrungen anbietet.
Eine Welt ist mit dem Wort gegründet, mit der Benennung, der Unterscheidung und der Trennung – der Erde vom Himmel, des Menschen vom Tier usw. Wir schöpfen unsere Welt und richten sie ein, indem wir das Selbst von den anderen, das Nützliche vom Nutzlosen, das Bedeutungsvolle vom Bedeutungslosen, das Gute vom Bösen, das Glück vom Unglück unterscheiden. Eine Welt kann man nur als eine menschliche Welt vorstellen, als Sinngebung des Sinnlosen, als sinnvoll dargestellte Struktur der Sinngebungen, die ihren Sinn nur aus einer Distanz preisgeben, von außen also: aus der Fremde. Wir können Elemente der Wirklichkeit benennen, sie zu ihrer Bedeutung führen, wenn wir uns von ihnen unterscheiden, wir können ihre fremde Sinnlosigkeit nur durch gewaltsame Sinngebung vernichten. Dass wir die stummen Wirklichkeitselemente ihrer Fremdheit berauben, sie in der Benennung, durch Interpretation provisorisch beherrschen können, ist nur möglich, wenn wir unseren Gegenständen als Fremde gegenüberstehen. Wie alle einzelnen Sinngebungen ist auch die Vorstellung einer sinnvollen Welt nur von außen möglich, man braucht eine Distanz, einen Blickpunkt außerhalb der Welt; deshalb braucht man Gott oder schreibt man Geschichtsphilosophie, die Theologie der Gottlosen. Außerhalb der Welt (außerhalb der Fülle von Sinngebungen) stehen kann man vor oder nach der Zeit der Welt. Die Welt ist eine Negation der sinnlosen Wirklichkeit – sie ist göttlich, menschlich. Zeit und Welt, wie z. B. Jacob Taubes es beschrieben hat, gehören zu einander, die Welt wird aber erst zur Welt (bedeutungsvoll also) durch ihr Ende, mit dem Ende ihrer Zeit.
Nur eine sinnvolle Welt ist eine Welt, sie muss nicht gut oder schlecht sein, sie beinhaltet aber die Konturen von Gut und Böse. Da sich der Sinn einer Welt nur nachträglich entblößt, braucht sie ein Jenseits. Die Welt, die mit dem Wort der Benennung, das heißt, mit der Unterscheidung gegründet wird, wird mit dem Wort der Enthüllung ihrer Sinneinheit beendet.
Über Glück und Unglück kann man träumen und hoffen, urteilen aber kann man nur nachträglich, aus der Fremde, wenn alles vorbei ist. Um über Glück und Unglück zu sprechen, bedarf es der Hoffnung, dass unsere Worte mit einem gemeinsamen Kontext rechnen können.
Ob unsere Worte überhaupt gemeinsame Kontexte (oder sogar eine gemeinsame Welt) haben, bezweifelten nicht nur Begriffshistoriker oder Sprachphilosophen. Jedoch ist die Möglichkeit eines partiellen, fragmentierten, begrenzten und provisorischen Verständnisses oft gegeben: in den Fachsprachen, in der Sprache der Verkehrsregelungen, in den Schul-, Gefängnis-, Kloster-, Kneipen- oder Armeekameradschaften, im politischen Jargon bestimmter Medienkreise, in isolierten Dorf-, Glaubens-, oder Mythengesellschaften. Ja, wir spielen unterschiedliche Sprachspiele, und unsere Worte sind in den Welten der unterschiedlichen Sprachgebrauchsarten beschlossen, die einander oft nicht zugänglich sind, weil sie – wie Reinhart Koselleck sagen würde – mit unterschiedlichen Zeitvorstellungen, mit anderen Erfahrungen und Erwartungen zusammengebunden sind. Aber immerhin, eine praktische menschliche Kommunikation ist hin und wieder möglich.
Eine Welt haben wir aber nicht. Nicht etwa nicht, weil unsere Welt noch nicht beendet worden wäre und deshalb ein Bild von dieser Welt als Welt – ein Wissen also um Glück und Unglück – aus der Distanz nicht möglich ist. Auch nicht deshalb, weil wir Menschen in hoffnungslos unterschiedlichen Welten leben, die ganz unterschiedliche Glücks- und Unglücksvorstellungen haben, obwohl auch das zutrifft.
Es gab nämlich einmal eine Welt, eine Welt, die sich vor etwa siebzig Jahren selbst beendet hat, eine Welt, die sich erst nachträglich als eine gemeinsame enthüllt und die das Ende ihrer Zeit – also ihre Entblößung – erlebt hat.
Nur mit dem Ende dieser Welt wurde sichtbar, dass sie einst eine Welt war.
Als Menschen erfahren haben, dass sie die Distanz zum schweigenden Leben, zur Wirklichkeit nicht mehr einnehmen können (siehe z. B. Primo Levi, Imre Kertész), dass sie den Elementen der Wirklichkeit nicht mehr fremd – also als Subjekt – gegenüber stehen, keine Schöpfer ihrer Welt mehr sind, die Namen geben, identifizieren und unterscheiden, urteilen, erobern oder wählen können, dass sie als namenlose Masse Teil der nicht mehr mit Sinngebungsakten begreifbaren Wirklichkeit sind, von der sie verschluckt werden, dass sie alle Distanzierungsmöglichkeiten verloren haben, konnten sie nur noch eine einzige klare Distanz einnehmen: die Distanz zu der Welt, die, da sie zugrunde gegangen ist, an ihr Ende gekommen ist. Da man, um Mensch zu sein, eine gewisse Entfremdung von der leeren Flut der Sinnlosigkeit braucht, stellte die Rücknahme dieser Entfremdung, die erzwungene völlige Einheit mit der Wirklichkeit, das Ende des Menschseins und damit der Welt dar. Erst in der völligen Vereinigung mit der Wirklichkeit, mit dem vollständigen Verlust der Welt zeigte sich das einstige Bestehen einer Welt.
Mit dieser Apokalypse offenbarte sie sich als die vollendete Geschichte des Scheiterns der Sinngebung des Sinnlosen. Sie entpuppte sich als die erste wirklich gemeinsame Geschichte der Menschheit, als die erste richtige Welt, die sich zugleich als Trümmerfeld aller Sinngebungsversuche zeigte.
Seit diesem ersten Weltende haben wir aber keine neue Welt. Seither leben wir im Trümmerfeld der Sinngebungsruinen.In der Nachwelt der Welt stoßen wir manchmal auf Menschen mit Worten und Gesten, die uns unerklärlicherweise erreichen, auf Menschen auch, die von unseren Worten und Gesten berührt scheinen. Womöglich sind diese begrenzten, partiellen Erfahrungen nur Missverständnisse der Liebe, der Freundschaft, der epikureischen Kollision von Erfahrungen. Sie passen nicht zu unserer Weltlosigkeit, vielleicht aber würden wir sie auch in einer Welt als Wunder interpretieren.